C. Kemper u.a.: Handlungsspielräume der Handelskammer Hamburg in der NS-Zeit

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Titel
Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten der Handelskammer Hamburg während der NS-Zeit. Einordnungen und biografische Annäherungen


Autor(en)
Kemper, Claudia; Rentschler, Hannah
Erschienen
Berlin 2023: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Dockter, Institut für Didaktik der Demokratie, Leibniz Universität Hannover

Im Jahr 2018 beschloss das Plenum der Handelskammer Hamburg, eine "aktive Auseinandersetzung mit ihrer institutionellen und personellen Vergangenheit [...] während der NS-Zeit zu beginnen“ (S. 9). Daraufhin wurde eine Kommission eingesetzt, die ein Forschungsprojekt initiieren sollte, das den „‚Profiteuren und Systemgewinnern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus den Reihen des Haupt- und Ehrenamts‘ nachgeht“ (ebd.) und die Personen dokumentiert, „die zwischen 1933 und 1945 ein Handelskammeramt ausübten und während dieser Zeit das NS-Regime aktiv unterstützten und/oder von dessen Gewalt- und Unterdrückungspolitik profitierten“ (ebd.). Dieser Aufarbeitungsauftrag lag der vorliegenden Studie zugrunde, die von 2019 bis 2021 zwar im Auftrag der Kammer, aber wissenschaftlich unabhängig (S. 21, 387) von Claudia Kemper und Hannah Rentschler erarbeitet wurde. Entstanden ist eine in zwei Teile aufgeteilte Darstellung zu den Handlungsspielräumen und Verantwortlichkeiten der Akteure in der Handelskammer Hamburg. Im ersten Teil untersucht Kemper die Geschichte der Handelskammer im „Dritten Reich“ (S. 7–216), während Hannah Rentschler im zweiten Teil 21 biografische Skizzen von Akteuren, die zwischen 1933 und 1945 im Haupt- und Ehrenamt der Kammer tätig waren, zusammenträgt (S. 217–364).

Im ersten Buchteil wertet Kemper zunächst quantitativ die NS-Mitgliedschaften von 113 Personen aus, die zwischen 1933 und 1945 mit unterschiedlicher Dauer im Haupt- und Ehrenamt der Kammer tätig waren, ehe sie für die darauf aufbauende qualitative Analyse das Sample auf 40 Personen reduzierte (S. 12–16). Es existieren bereits Aufarbeitungsstudien, in der die Geschichte einer Institutionen während der NS- und/oder der Nachkriegszeit anhand der nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer maßgeblichen Akteure analysiert wird, jedoch ist das nicht immer so gut gelungen wie hier. Das liegt auch an Kempers intensiver Auseinandersetzung mit den Analysekategorien, mithilfe derer das Handeln von Akteuren während des „Dritten Reichs“ eingeordnet werden kann. Die Autorin wendet sich eindeutig gegen Ansätze, bei denen schon die Auflistung von NS-Mitgliedschaften als Beweis für eine vermeintlich hohe NS-Affinität interpretiert wird. Sie hält auch die Suche nach den Motiven für das individuelle Agieren für nicht zielführend, weil es wenige Quellen gäbe, die es zulassen, eindeutige Aussagen über individuelle Beweggründe zu treffen. Außerdem sei die Bewertung derartiger Quellen schwierig, da sie meist nachträgliche Aussagen seien und ideologisch konnotierte Äußerungen vielfach als Formeln „pragmatischer Notwendigkeitsrhetorik“ (S. 37) interpretiert werden müssten. Die Autorin möchte Täterschaft nicht aus der Spekulation über Motive ableiten, sondern sie anhand von Handlungen belegen (S. 36–39).

Dieser praxeologische Ansatz führt die Lesenden in eine tiefschürfende Analyse des Agierens kammerverantwortlicher Akteure in neuralgischen Themen wie der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz von Juden (S. 138–159), der Ausbeutung der besetzten Gebiete (S. 160–182) und der Arbeitskräftebeschaffung im Krieg (S. 182–209). Kemper legt dabei die vielseitige Einbindung der mit der Kammer verbundenen Akteure in die verbrecherische Politik des Nationalsozialismus offen und macht deutlich, welch Potential darin liegen kann, einen regional agierenden unternehmerischen Interessenverband und seine Netzwerke zum Ausgangspunkt einer wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchung zu machen. Letztlich resümiert sie, dass in der Kammer „eine ‚institutionell determinierte Handlungspraxis‘ an der Tagesordnung war, die eine Radikalisierungsspirale in Gang setzte“ (S. 215f.), die zwar „nicht zu Morden und Gewalttaten, aber zu einer dehumanisierenden Haltung gegenüber all jenen Gewerbetreibenden, Arbeitern, Arbeiterinnen und Gefangenen, die nicht zur ‚Volksgemeinschaft‘ gehörten und denen zur Aufrechthaltung der Produktivität jedes Menschenrecht abgesprochen wurde“ (S. 216), geführt hat. Auf dieser Basis wurden auch von der Handelskammer Hamburg Verbrechen ermöglicht und verbrecherische Praktiken jahrelang effizient durchgeführt (ebd.).

Die im zweiten Teil des Buches von Hannah Rentschler recherchierten biografischen Skizzen dokumentieren die Lebensdaten und die beruflichen Funktionen maßgeblicher Kammerakteure, geben Hinweise auf Sozialisationsfaktoren und lassen die wichtigsten Facetten ihres Agierens im Nationalsozialismus komprimiert erfassen. Auch hier steht das systemstabilisierende bzw. -fördernde Handeln der Akteure und ihr Profitieren vom NS-System im Zentrum (S. 219). Allerdings entspricht dieser Teil eher einem umfangreichen biografischen Anhang als einem zweiten Buchteil, der mit der zusammenhängenden Analyse des ersten Teils verglichen werden kann. Trotzdem werden alle, die vertiefende Informationen über die während der NS-Zeit einflussreichen Unternehmer und Verwaltungsbeamte der Handelskammer Hamburg recherchieren wollen, hier fündig werden.

Die vorliegende von Kemper und Rentschler veröffentlichte Studie ist eine lesenswerte und den dünnen Forschungsstand zur Geschichte der deutschen Industrie- und Handelskammern im „Dritten Reich“ nachhaltig bereichernde Forschungsleistung. Allerdings ist die Darstellung der Entstehung des Aufarbeitungsauftrages unvollständig. Schließlich haben die Aufarbeitungsbemühungen der Handelskammer Hamburg nicht erst im Jahr 2018, sondern schon fünf Jahre vorher begonnen. Im Vorfeld ihres 350-jährigen Jubiläums beauftragte die Kammer den Journalisten Uwe Bahnsen damit, ein Buch über ihre NS-Geschichte zu schreiben. Dieser veröffentlichte zwei Jahre später seine Darstellung1 und genoss dafür die Anerkennung der Kammer, die das Buch als „unglaublich authentisch“ und Bahnsen als unabhängigen Autor präsentierte.2 Die Meinung der Fachwissenschaft wich von diesem Urteil ab. Lu Segers kam zum Beispiel zu dem Schluss, dass Bahnsen keinen wissenschaftlichen Maßstäben gerecht werdende Arbeit vorgelegt habe. Er berücksichtige den Forschungsstand oberflächlich, weise Quellen ungenügend nach und deute die Verantwortung der maßgeblichen Akteure einseitig.3 Die spezifische Analyse von Handlungsspielräumen und Verantwortlichkeiten der Kammerakteure in Zusammenhang mit den Verbrechen des „Dritten Reiches“ kann als Antwort auf die Kritik an Bahnsens Darstellung interpretiert werden. Leider sucht man in der vorliegenden Studie vergebens nach einer Einordnung des ersten Aufarbeitungsvorhabens der Kammer. Auch in der Forschungsstandanalyse wird Bahnsens Arbeit nur beiläufig in einer Fußnote erwähnt (S. 22). Dabei wird eingangs deutlich gemacht, dass es nicht nur eine Verantwortung in der Geschichte, sondern auch für die Geschichte gibt (S. 8). Zu Letzterer gehört jedoch auch, zu benennen, dass die Beauftragung des Journalisten Bahnsen, bei der bereits im Autorenvertrag festgehalten wurde, dass er „die konstruktive Rolle der Kaufmannschaft und der Kammer bei den besonderen Herausforderungen in Hamburg während der NS-Zeit“ zu verdeutlichen habe, einer unabhängigen Aufarbeitung entgegenwirkte und eine neue wissenschaftlich valide Untersuchung erforderlich machte.4

Darüber hinaus scheint der im Jahr 2018 von der Kommission inhaltlich definierte Aufarbeitungsauftrag und die kurz bemessene Projektlaufzeit der vollen Entfaltung des Potentials, das in dem Untersuchungsgegenstand liegt, im Weg gestanden zu haben. So räumt Kemper ein, dass die vorliegende Studie nicht als umfassende Darstellung der Geschichte der Handelskammer Hamburg in der NS-Zeit zu verstehen ist. Fragen nach den „städtischen Verzweigungen des Kammer-Netzwerkes, nach NS-Kontakten vor 1933 und nach 1945, nach spezifischen Zusammenhängen einzelner Ereignisse oder nach längerfristigen, sozialen und kulturellen Bedingungen für die Situation der Handelskammer und ihrer Mitglieder in der NS-Zeit“ (S. 10) sind unberücksichtigt geblieben. Es gibt also reichlich Ansätze, die Forschungen zur Geschichte der Handelskammer Hamburg weiterzuführen. Wer sich diesem Forschungsfeld annehmen will, sich für die Geschichte der deutschen Industrie- und Handelskammern im „Dritten Reich“ interessiert oder etwas über die Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten von Unternehmern im Nationalsozialismus erfahren will, findet in der vorliegenden Studie eine gewinnbringende Lektüre.

Anmerkungen:
1 Uwe Bahnsen, Hanseaten unter dem Hakenkreuz. Die Handelskammer Hamburg und die Kaufmannschaft im Dritten Reich, Hamburg 2015.
2 So der damalige Hauptgeschäftsführer in einem von der Handelskammer Hamburg veröffentlichen Kurzfilm aus dem Jahr 2015: Buchvorstellung „Hanseaten unter dem Hakenkreuz“, https://www.youtube.com/watch?v=651RUPi0HLw (15.12.2023).
3 Lu Seegers, Rezension zu: Uwe Bahnsen: Hanseaten unter dem Hakenkreuz. Die Handelskammer Hamburg und die Kaufmannschaft im Dritten Reich, Hamburg 2015, in: H-Soz-Kult, 17.12.2015, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-22871 (15.12.2023).
4 Zitiert nach Hanna Grabbe / Oliver Hollenstein, Ganz schön konstruktiv, in: ZEIT 30 (2015). Die Autor:innen zitieren hier aus Paragraf 1, Absatz 2 des Autorenvertrags.

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